Berliner Wildschweine: Die einen treu im Kiez, die anderen aus dem Umland

(26.09.2016) In Berlins Stadtwäldern gibt es isolierte Wildschweinpopulationen und es gibt städtische Wildschweine, die aus ländlichen Gebieten stammen.

Das ist das verblüffende Ergebnis der Kooperationsstudie des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, dem Landeslabor Berlin Brandenburg und dem Naturkundemuseum Luxemburg.


Berliner Wildschweine

Im Rahmen einer Leibniz-IZW Doktorarbeit, die von National Geographic und der Stiftung Naturschutz Berlin unterstützt wird, untersuchten die Forscher genetische Daten von 387 ausgewachsenen Wildschweinen aus Berlin und seinem Umland. Die ersten Forschungsergebnisse wurden jetzt im „Journal of Applied Ecology“ veröffentlicht.

Infolge der weltweiten Urbanisierung leben immer mehr Wildtiere in Städten, auch in Berlin, das auch als Hauptstadt der Wildschweine bekannt ist. Vier Forstgebiete decken 20 % des Berliner Stadtgebiets  mit großflächigen Wäldern ab, ideal für Wildtiere aller Art. Wildschweine leben allerdings nicht nur in den Stadtwäldern, sondern werden auch regelmäßig in innerstädtischen Parks oder Gärten gesichtet und bringen dort sogar Frischlinge auf die Welt.

Urbane Strukturen könnten zu „Insel“populationen führen, die durch wenige Gründertiere etabliert werden und danach keinen Austausch mit ländlichen Populationen mehr haben. Alternativ, so eine andere Idee, könnten urbane Gebiete Abwanderer aus dem ländlichen Raum auffangen und bei einem kontinuierlichen Austausch zwischen Stadt und Land eine gemeinsame genetische Struktur behalten. Bislang war unklar, wo die Berliner „Stadtschweine“ herkommen. Handelt es sich um Abwanderer aus den benachbarten Stadtwäldern oder aus dem ländlichen Umland? Entwickelten sich daraus isolierte Teilpopulationen oder gibt es weiterhin einen Austausch über die Landesgrenzen? Um diese Fragen zu beantworten, sammelten die Forscher Gewebeproben von 387 Wildschweinen aus Berlin und Brandenburg.

„Überraschenderweise handelt es sich bei den Wildschweinen der Berliner Stadtwälder um drei isolierte Populationen, die im Kerngebiet des Grunewalds, im Tegeler Forst sowie im Köpenicker Forst vorkommen. Hingegen bilden die Wildschweine aus Pankow, dem vierten Forstgebiet Berlins, eine zusammenhängende Population mit den untersuchten Brandenburger Wildschweinen“, sagt die Doktorandin Milena Stillfried, die die Studie durchführte. Ihre Analysen zeigen, dass es mindestens zwei unabhängige Besiedlungsprozesse der Stadtwälder gegeben haben muss, einmal im Grunewald und einmal in Köpenick. Die dritte Population im Tegeler Forst ist aus der benachbarten Population im Grunewald entstanden.

„Besonders verblüffend ist die Tatsache, dass Wildschweine aus dem innerstädtischen Bereich aus Brandenburg und nicht aus den Stadtwäldern stammen“, erklärt Stillfried. Somit lassen sich in Berlin zwei Urbanisierungsprozesse beobachten. Zum einen entstehen isolierte Populationen in den Stadtwäldern, zum anderen fungiert der Siedlungsbereich als Auffangbecken für die Brandenburger Landpopulation.

„Nie hätten wir erwartet, dass sich urbane Strukturen eins zu eins in der genetischen Struktur der Wildschweinpopulationen abbilden“, so die Initiatorinnen des neuen Forschungsschwerpunktes „Urbane Wildtierökologie“, Stephanie Kramer-Schadt und Sylvia Ortmann, die diese Initiative 2012 am Leibniz-IZW ins Leben gerufen haben.

Offensichtlich verstehen es die flexiblen und anpassungsfähigen Tiere, sich neue, städtische Lebensräume erschließen. Während Wildschweine in ländlichen Gebieten scheu sind und Begegnungen mit Menschen meiden, finden Wildschweine in der Stadt Lebensräume in unmittelbarer Nähe zum Menschen und verlieren ihre Scheu.

Genetische Muster sind oft durch Landschaftsstrukturen beeinflusst.

Ist es also denkbar, dass die isolierten Populationen im Grunewald und in Tegel ein Ergebnis der Berliner Mauer, also der Berliner Geschichte sind, die möglicherweise auch eine unüberwindbare Grenze für Wildtiere darstellte? Nun, auch im Köpenicker Forst, der nicht durch eine Mauer abgetrennt war, fand ebenfalls ein Urbanisierungsprozess der Wildschweine statt, der zu einer isolierten Population führte, so dass die Berliner Mauer als alleiniger Erklärungsgrund für die Entwicklung der Struktur der Wildschweinpopulationen nicht ausreicht. Eine andere Erklärung ist naheliegender: Die Kerngebiete der isolierten urbanen Populationen sind zum großen Teil von landschaftlichen Barrieren wie großen Straßen und Wasserläufen eingegrenzt, die die Mobilität der Wildschweine in alle Richtungen erschweren könnten – obgleich Wildschweine durchaus Straßen überqueren können und als gute Schwimmer gelten. 

Wildschweine in urbanen Gebieten sind bekannt für die Schäden, die sie bei der Nahrungssuche auf privaten und öffentlichen Grünanlagen verursachen. Viele BürgerInnen haben auch Angst vor den eigentlich meist friedlichen Wildschweinen. Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Populationsstruktur der Wildschweine in Berlin und Brandenburg werden zum Verständnis von Prozessen der Urbanisierung von Wildtieren beitragen und die Behörden in ihren Bemühungen unterstützen, Konflikte möglichst zu minimieren. Diese Studie wird teilweise aus Mitteln der Jagdabgabe finanziert.

Publikation

Stillfried M, Fickel J, Börner K, Wittstadt U, Heddergott M, Ortmann S, Kramer-Schadt S, Frantz A (2016): Do cities represent sources, sinks or isolated islands for urban wild boar population structure? Journal of Applied Ecology. DOI: 10.1111/1365-2664.12756.



Weitere Meldungen

Wildschwein; Bildquelle: Armatus1995, CC BY-SA 4.0

Wildschweine trotzen durch Thermoregulierung dem Klimawandel

Im Laufe der Evolution haben sich Wildschweine weltweit verbreitet und werden in dieser Hinsicht nur vom Menschen und dessen Dauerbegleitern Maus und Ratte übertroffen
Weiterlesen

Wildschweine beim Suhlen; Bildquelle: Joachim Reddermann / TU Wien

Stark radioaktives Wildschweinfleisch: Das Wildschwein-Paradoxon – endlich gelöst

Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist Wildschweinfleisch immer noch verblüffend stark radioaktiv. Des Rätsels Lösung: Man hatte eine wichtige andere Ursache übersehen
Weiterlesen

Bache mit Frischlingen; Bildquelle: David Wiemer

Klassischen Schweinepest in Wildschweinen: Einzelerkrankung oder Seuchenzug?

Paarungsverhalten und Bewegungsmuster beeinflussen Dynamik von Tierseuchen
Weiterlesen

Schweiz

ASP-Früherkennungsprogramm für Wildschweine zeigt erste Ergebnisse

Die Afrikanische Schweinepest (ASP) breitet sich weiter in Europa aus. Zur Stärkung der Prävention hat das BLV im April 2018 ein nationales Früherkennungsprogramm eingeführt.
Weiterlesen

Bundesverband der beamteten Tierärzte

Veterinärrechtliche Eingriffsmöglichkeiten bei der Afrikanischen Schweinepest

Bundesverband der beamteten Tierärzte fordert eindeutiges Bekenntnis der Agrarministerkonferenz zu erweiterten veterinärrechtlichen Eingriffsmöglichkeiten
Weiterlesen

NABU

NABU lehnt Jagdverband-Vorschlag zur Bekämpfung der Schweinepest ab

Der Deutsche Jagdverband hat sich in einem jetzt vorgestellten Sechs-Punkte-Plan zur Bekämpfung und Vorbeugung der Afrikanischen Schweinepest für die Aufhebung von Jagdverboten in Naturschutzgebieten ausgesprochen
Weiterlesen

Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz

Stellungnahme der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz zu ASP und Wildschweinjagd

Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e.V.: Afrikanische Schweinepest darf nicht Ausrede sein, Gebote des Tierschutzes und der Waidgerechtigkeit bei der Wildschweinjagd zu missachten
Weiterlesen

Wildschweine; Bildquelle: M. Stillfried / Leibniz-IZW

Das Erfolgsgeheimnis der Berliner Wildschweine: Ein Leben ohne Angst

Wildschweine sind bekannt für ihr ausgezeichnetes Lernverhalten und ihre hohe Flexibilität - zu Recht, denn die urbanen Vierbeiner nehmen die Stadt ganz anders wahr als ihre Artgenossen vom Land.
Weiterlesen


Wissenschaft


Universitäten


Neuerscheinungen